Freitag, 30. November 2012

Was wir wirklich sind...





"Wir sind nicht menschliche Wesen, die spirituelle Erlebnisse haben,
 sondern spirituelle Wesen, die menschliche Erlebnisse haben"


 Pierre Teilhard de Chardin



Foto © designer111 / photocase.com




Gottes Bild im Menschen


St. Augustinus spricht: "Wenn des Menschen Seele sich ganz hinaufkehrt in die Ewigkeit, in Gott allein, so erscheint und leuchtet auf das Bild Gottes. Wenn sich aber die Seele nach außen kehrt, und seien es selbst äußerliche Tugendübungen, so wird dies Bild völlig verdeckt."

All das von der Seele, das sich hinunterwendet, das nimmt das an, dem es sich dabei zuwendet, [im Bild gesprochen:] es nimmt eine Decke oder eine Art Kopftuch. Was sich aber von der Seele hinaufwendet, das ist ein bloßes Bild Gottes; das ist Gottes Geburt, ganz unverdeckt und bloß in bloßer Seele.
Von dem edlen Menschen - als Gottes Bild, als Gottes Sohn, als göttliche Natur in uns - es kann uns nimmer zerstört werden, nur verdeckt mag es (dann und wann) sein.


Meister Eckhart


aus: Meister Eckhart, Vom Adel der menschlichen Seele, Anaconda Verlag S. 32



Montag, 26. November 2012

Gleich einer Flöte, die du füllst mit Tönen



Mein Lied hat seines Schmuckes
sich entäußert,
es ist nicht stolz auf Kleid und Zier.
Der Schmuck könnte unsre Einigkeit zerstören,
er würde zwischen dich und mich sich stellen;
dein Flüstern könnt ertrinken
in dem Klingklang.

Mein Dichterhochmut stirbt in Scham
vor deinem Anblick,
o Meisterdichter,
ich saß dir zu Füßen.
Laß mich mein Leben
grad und einfach machen,
gleich einer Flöte,
die du füllst mit Tönen. 




Rabindranath Tagore

aus Gitanjali


Deutsche Nachdichtung von Marie Luise Gothein [1863-1931]

Donnerstag, 22. November 2012

In der Liebe zu Gott ist das Maß, ohne Maß zu lieben



In der Liebe zu Gott wird uns keinerlei Maß auferlegt, da hier das Maß ist, ohne   Maß zu lieben: Man soll sich nicht sorgen, zu viel zu lieben, sondern nur    fürchten, zu wenig zu lieben.

Severus von Mileve 
Augustinus von Hippo 

Severus von Mileve, Augustinusschüler und bischöflicher Amtsbruder, fasst mit diesem Wort
die Kerngedanken seines Meisters wieder.


Zitiert in: P. Bernward Deneke, "Liebe, und dann tue was du willst"

Tun oder Sein


Die Leute brauchten nicht soviel nachzudenken, was sie tun sollen, sondern sie sollten nachdenken, was sie seien. Wären nun die Leute gut und auch ihre Weise zu leben, so könnten ihre Werke sehr leuchten. Bist du gerecht, so sind auch deine Werke gerecht.
Nicht gedenke Heiligkeit zu gründen auf ein Tun; Heiligkeit soll man gründen auf ein Sein, denn die Werke heiligen nicht uns, sondern wir sollen die Werke heiligen.
Wie [angeblich] heilig auch die Werke immer sein mögen, so heiligen uns nicht, da sie eben Werke sind. Mehr noch: Sofern wir sind und am Sein teilhaben, in dem Maße heiligen wir alle unsere Werke, es sei Essen, Schlafen, Wachen oder was es sonst sei. 
Die aber nicht am großen Sein teilhaben, welche Werke sie auch wirken mögen, aus denen wird nichts. So merke hier, dass man allen Fleiß darauf setzen soll, dass man gut sei; und nicht so sehr, was man tue oder von welcher Art die Werke sind, sondern wie der Grund der Werke ist.


Meister Eckhart

aus: Meister Eckhart, Vom Adel der menschlichen Seele, Anaconda Verlag S. 38


Dilige et quod vis fac - Liebe und tue, was du willst!


Die Taten der Menschen lassen sich nur von der Wurzel der Liebe her werten. Denn vieles kann man tun, was guten Anschein hat, aber nicht aus der Wurzel der Liebe hervorgeht. Denn auch der Dornstrauch blüht; vieles aber scheint hart und finster, und doch schafft es um der Zucht willen die Liebe. Einmal für alle wird dir also ein kurzes Gebot aufgestellt: Liebe und tue, was du willst! Schweigst du, so schweige aus Liebe; sprichst du, so spreche aus Liebe; rügst du, so rüge aus Liebe; schonst du, so schone aus Liebe: innen sei die Wurzel Liebe, nur Gutes kann dieser Wurzel entsprießen.


Augustinus von Hippo

Montag, 19. November 2012

Eia, o Liebe, süß im Kuss



Eia, o Liebe, süß im Kuß.
Du bist jene Quelle,
nach der ich dürste.
Siehe, zu dir wallt auf mein Herz.
O wenn, o wenn du doch,
o volles Meer,
mich unbedeutenden Tropfen
in dich aufsaugen wolltest!
Du bist meiner Seele
der lebendige süßeste Eingang,
auf daß ich dann
von mir in dich
- so geschehe es! -
finde des Lebens Ausgang.


Gertrud von Helfta

Eia, Liebe, nun lass dich minnen


Wie der von Liebe Verwundete wieder gesundet





Wird ein Mensch zu einer Stund 
Von wahrer Liebe gänzlich wund, 
So wird er nie mehr recht gesund, 
Er küsse denn denselben Mund, 
Der seine Seele machte wund.

Je mehr seine Lust wächst, 
    um so schöner wird ihre Hochzeit,
Je enger das Minnebett wird, 
    um so inniger wird die Umarmung,
Je süßer das Küssen, 
    um so minniglicher das Anschauen.
Er umarmt sie auch im edlen Wohlgefallen 
    seiner Liebe,
Er grüßt sie mit seinen seligen Augen, 
Wenn sich die Liebenden wahrhaft schauen. 

Er durchküßt sie mit seinem göttlichen
    Munde, 
Wohl dir, ja mehr als wohl, ob der über-
    herrlichen Stunde! 
Er liebt sie mit aller Macht auf dem Lager
     der Minne 
Und sie kommt in die höchste Wonne 
Und in das innigste Weh 
Wird sie seiner recht inne. 

 ...Seligkeit über Seligkeit 
Frieden über Frieden, 
der alle Vorstellungen übersteigt

Eia, Liebe, nun laß dich minnen, 
Und wehre dich nicht mit finsteren Sinnen.




 Mechthild von Magdeburg

(Das fließende Licht der Gottheit, Buch II,15 )





Freitag, 16. November 2012

Du bist ein Verlust meiner selbst



Du bist 
ein Verlust meiner selbst, 
ein Sturm meines Herzens, 
ein Fall und Untergang meiner Kraft, 
meine höchste Sicherheit 


Mechthild von Magdeburg 

(Das fließende Licht der Gottheit, I,20)



Freitag, 9. November 2012

Du bist der Himmel und du bist auch das Nest






Du bist der Himmel
und du bist auch das Nest.

Du Schöner,
dort ist deine Liebe
im Nest,
die umschließet die Seele mit Farben,
Tönen und Duft.




Rabindranath Tagore

aus Gitanjali

(Verse aus dem Lied 67)

Donnerstag, 8. November 2012

Du führtest zu Freunden mich...



Du führtest zu Freunden mich, 

die ich nicht kannte.
Du wiesest den Sitz mir im Hause,
das nicht mein eigen.
Du brachtest das Ferne mir nah
und machtest mich Bruder dem Fremden.

Mein Herz ist voll Unruh,
wenn ich verlassen muss 
das vertraute Obdach,
und ich vergesse,
dass altes immer im neuen wohnt,
dass auch du dort wohnst.

Durch Geburt und Tod, in dieser Welt
oder in andern,
wohin du mich führst,
du bist es, derselbe, der ein Gefährte
des endlosen Lebens,
der immer mein Herz
mit den Banden der Freude
dem Ungewohnten verbindet.

Dem, der dich kennt, ist nichts mehr fremd,
keine Tür ist verschlossen.
O, gewähr dies Gebet mir,
dass ich nie den Segen verliere,
das Eine zu fassen
im Spiele der Vielen.



Rabindranath Tagore

aus Gitanjali


Deutsche Nachdichtung von Marie Luise Gothein [1863-1931]

Sonntag, 4. November 2012

Ich warte nur auf die Liebe



                                    Ich warte nur auf die Liebe, 
um endlich mich in seine Hände aufzugeben. 
Deshalb bin ich so spät, und deshalb 
bin ich schuldig so vieler Lücken.

Sie kommen mit ihren Gesetzen und Regeln, 
um mich zu binden, 
doch ich entschlüpfe ihnen immer wieder, 
denn ich warte nur auf die Liebe, 
um endlich mich in seine Hände aufzugeben.

Die Leute tadeln mich, 
nennen mich unbedacht, 
ich zweifle nicht, sie haben 
Recht zum Tadel.

Der Markttag ist vorüber, 
alle Arbeit ist getan für die Geschäftigen. 
Die da kamen umsonst mich zu rufen, 
gingen voll Zorn. 
Ich aber warte nur auf die Liebe, 
um endlich mich in seine Hände aufzugeben. 


Rabindranath Tagore

aus Gitanjali


Deutsche Nachdichtung von Marie Luise Gothein [1863-1931]

Samstag, 3. November 2012

Wenn du nicht sprichst...




Wenn du nicht sprichst, will ich mein Herz
mit deinem Schweigen füllen
und dulden.
Ich warte und halte mich still
wie die Nacht mit ihren gestirnten Vigilien,
und ihrem Haupte tief geneigt in Geduld.

Der Morgen wird sicher kommen,
das Dunkel wird schwinden und deine Stimme
in goldenen Strömen sich ergießen
und vom Himmel brechen.

Dann werden deine Worte Schwingen nehmen
im Gesang von allen meinen Vogelnestern
und deine Melodien werden in Blumen
in meinen waldigen Hainen
aufbrechen. 




Rabindranath Tagore

aus Gitanjali


Deutsche Nachdichtung von Marie Luise Gothein [1863-1931]

Ich brauche dich, nur dich!



Dass ich dich brauche, nur dich,
soll mein Herz wiederholen endlos.
Alle Wünsche, die mich zerreißen
Tag und Nacht, sind nichtig
bis auf den Grund.

Wie die Nacht in ihrem Dunkel
den Drang nach Licht birgt,
so erklingt aus der Tiefe
des Unbewußten der Schrei: 

"Ich brauche dich, nur dich!"

Wie der Sturm sein Ziel
im Frieden sucht,
wenn er den Frieden bekämpft
mit all seiner Macht,
so schlägt mein Aufruhr
gegen deine Liebe,
und doch ist mein Schrei:
"Ich brauche dich, nur dich!"




Rabindranath Tagore

aus Gitanjali
Deutsche Nachdichtung von Marie Luise Gothein [1863-1931]

O du meines Lebens Leben!



O du meines Lebens Leben!
Immer werd ich mich mühn,
rein meinen Leib zu erhalten, wissend,
daß auf meinen Gliedern
lebendig dein Hauch ist.

Immer werd ich mich mühn,
Unwahres mir fern vom Denken zu halten,
wissend: du bist die Wahrheit,
die mir im Geiste das Licht
der Vernunft entzündet.

Immer werd ich mich mühn,
von meinem Herzen die Übel zu treiben
und meine Liebe in Blüte zu halten,
wissend: du thronest im Allerheiligsten
meines Herzens.

Und es soll immer mein Streben sein:
dich offenbaren in meinem Tun,
wissend, dass deine Macht
mir Kraft gibt zum Handeln. 



Rabindranath Tagore

aus Gitanjali 


Deutsche Nachdichtung von Marie Luise Gothein [1863-1931]